Von einem erstaunlichen Resonanzraum

Von einem erstaunlichen Resonanzraum Interview mit Carsten Nicolai

organ ist der Titel einer skulpturalen Arbeit von Carsten Nicolai, die eigens für die aus dem 12. Jahrhundert weitgehend ursprünglich erhaltene St.-Annen-Kapelle in Krobitz/Weira in Thüringen entworfen wurde. Im weitesten Sinne ist diese Arbeit ein musikalisches Instrument, welches seine Inspiration auf frühe Entwürfe sogenannter Flammenorgeln aus dem späten 18. Jahrhundert bezieht. Im Gegensatz zur klassischen (Kirchen-)Orgel sind die Tonerzeuger hier Flammen, welche Töne erzeugen indem sie in Glaszylindern resonieren. organ besteht aus 25 modellierten akustischen Resonanzröhren, deren geometrische Formen sich am Modell der Kirchen- bzw. Pfeifenorgel orientieren. Als Orgelpfeifen werden Glaszylinder verschiedener Größe verwendet, die anstelle des im Orgelbau üblichen Luftstroms mithilfe kleiner Gasflammen zum Schwingen gebracht werden. Die besondere Faszination liegt darin, dass die Klangerzeugung nicht – wie bei der konventionellen Orgel – unsichtbar bleibt, sondern sichtbar wird.


Warum eigentlich diese doch recht kleine Kirche in Krobitz?

Ein Teil meiner Familie lebt in einem Dorf im Harzvorland, im ehemaligen Grenzgebiet, da gibt es eine kleine romanische Kirche, die faktisch nicht mehr genutzt wird. Die war im Grunde immer traumhaft intakt, ganz pur und nicht verbaut, aber mittlerweile auch über die Zeit vergessen worden. Als ich die Kirche in Krobitz sah, erinnerte mich diese sofort an jene. Wie schön diese beiden kleinen Kirchen gealtert sind. Übrig geblieben ist fast nur noch pure Architektur, die Räume erscheinen noch wie aus der Erbauungszeit. Und da ist natürlich dieses Zeitlose; wie wenn man vor alten Bäumen steht und sich fragt, wie viele menschliche Existenzen die überlebt haben. Heutzutage gehst du in ein Bauwerk und weißt, dass es wahrscheinlich nach 25 Jahren wieder abgerissen wird. Was mich aber sofort interessiert hat, ist die sehr menschliche Dimension dieser Kirche. Häufig sind Kirchen gotisch nach oben strebend. Die ganzen romanischen Kirchen hingegen transportieren nicht das Aufstreben, diesen Überzeugungsmoment, sondern bleiben in der Dimension des Menschen. Die Kirche hier ist ja nicht größer als ein Haus, eigentlich kleiner als ein Haus.

Für einen erklärt atheistisch gesinnten Künstler sind Kirchen sicher eine besondere Herausforderung.

Ursprünglich wollte ich das ganze auch viel radikaler angehen und den Kirchenraum komplett gestalten. Ich dachte sofort an Matisse oder Rothko, die Kirchenräume ausmalten, oder Le Corbusier, der als Atheist auch viele Kirchen planen durfte. Ich würde also ganz der Tradition der Moderne folgen. Irgendwann wurde mir aber bewusst, dass man die Räume besser belässt, wie sie sind. Ich hatte keine Lust mehr, große Eingriffe zu tätigen; also nicht nur aus Gründen des Denkmalschutzes kein Eingriff, sondern irgendwie hat mich die Stärke des Vorgefundenen, die Aura oder vielleicht die Patina beeindruckt. Die Kirche als ein mit Energie geladener Ort. Man will dann nicht unbedingt an das Gebäude, an die Substanz ran, sondern respektiert das Gebäude eben in seiner Aura. Ich wollte etwas hinzufügen, was dazu passt, etwas Ergänzendes. Also kam ich auf die Idee, etwas in dieses Haus hineinzustellen, das es schon immer gab, das mit der Tradition der Kirche verwoben ist. Und da ich mich viel mit Sound und Ton beschäftige, ist es für mich das viel Spannendere, ein Musikinstrument zu entwerfen als vielleicht ein eher bildliches Werk. Natürlich ist es in gewisser Weise langweilig, weil es so offensichtlich ist. Es reizte mich aber, die Idee der Orgel neu zu definieren, die Idee, eine andere Technologie zu benutzen als den Blasebalg. Von der Bauart her ist eine Feuerorgel auch keine Neuerfindung, die gab es schon parallel zur klassischen Orgel. Sie entstand, als man versuchte, alternative Klangerzeugnisse zu finden, was aber daran scheiterte, dass andere Standards erfolgreicher waren. Die Feuerorgel wurde ein klassisches loses Ende in der Technikgeschichte. Für uns war es eine Herausforderung und zugleich ein Experiment, da all die alten Feuerorgeln nicht mehr existieren. Von Gemeinden gab es natürlich immer das Bestreben, Orgeln in ihren Kirchen zu haben. Also manche haben eine, manche haben keine. Manche eine kleine, manche eine große, die sie nicht mehr repariert bekommen und wahrscheinlich noch eine kleinere daneben. Was mich bei einer Orgel immer schon gestört hat, ist, dass du immer nur diese Orgelpfeifen siehst, dass du aber nie genau weißt, wo der Sound herkommt.

IBAMAGAZIN4
Das IBA Magazin #4 berichtet über die drei thematischen Schwerpunkten der StadtLand Projekte: UMBAUEN: LeerGut, AUFBAUEN: SelbstLand und NEUBAUEN: ProvinzModerne. Außerdem dokumentiert die Ausgabe die erreichten Meilensteine des IBA Prozesses: Im Juni 2017 ist das erste IBA Projekt fertiggestellt worden – die St. Annen-Kapelle in Krobitz mit dem Kunstwerk ›organ‹ von Carsten Nicolai. Längere Essays und kürzere Projektberichte geben Einblick in die vielfältige Kandidaten- und Projektarbeit.