Warum Thüringen Einwanderung braucht

Thüringen hat 2,2 Millionen Einwohner, das sind rund 450.000 weniger als 1990, und die Prognosen sagen bis 2035 einen Verlust von weiteren 275.000 Thüringern voraus. 2035, das heißt in neunzehn Jahren, werden in Thüringen demnach noch rund 1,9 Millionen Einwohner leben. Wir sind eine alternde Gesellschaft. Der Altersdurchschnitt lag 2013 bei 46,7 Jahren und damit 7,6 Jahre höher als noch 20 Jahre zuvor. Bis 2035 wird diese Zahl auf 49,9 Jahre steigen.[1] Der Thüringer Ministerpräsident Bodo Ramelow wird nicht müde zu erklären, dass der Thüringer Wirtschaft bis 2025 etwa 280.000 Fachkräfte fehlen werden[2] und 45.000 Gebäude stehen in Thüringen leer, das hat die Internationale Bauausstellung Thüringen aus verschiedenen Quellen plausibel (und eher vorsichtig) geschätzt.

Wollen wir doch mal ehrlich sein: Thüringen ist die schöne und grüne Mitte Deutschlands. Fast alle geografischen Mittelpunkte von Deutschlands, die uns Wikipedia anbietet, liegen in Thüringen. Zu Wasser und zu Lande! Aber Thüringen ist beileibe nicht das Zentrum von Deutschland. Die Halbmillionenstädte Hannover, Nürnberg, Frankfurt/Main und Leipzig liegen jeweils anderthalb bis drei Stunden Reisezeit entfernt. Erfurt ist Landeshauptstadt, aber keine Metropole. Irgendwann, in längst vergangenen Tagen, ist Erfurt falsch abgebogen und aus der Großstadt des Mittelalters wurde wohl einerseits eine der schönsten Städte Deutschlands, die freilich andererseits schon außerhalb der Grenzen dieses Freistaates eher wenig bekannt ist. Man muss schon nach Erfurt gekommen sein, um Erfurts Qualitäten zu erkennen. Die Adresse von Thüringen war und ist Weimar. Trotz ihrer kulturellen Blüte von der Weimarer Klassik über das Bauhaus bis hin zum Kunstfest kann sie sich in diesen Tagen nicht einmal ihrer Kreisfreiheit gewiss sein, weil sie unter der für die Gebietsreform ausgerufenen Mindesteinwohnerzahl bleibt. Gera ist der ‚Underdog’, von dem offenbar niemand Impulse für die gleichlautende Region erwartet. Selbst Jena ordnet der renommierte Stadtforscher Harald Siemons nur in die Mittelgruppe der deutschen Schwarmstädte ein, gleich hinter Mainz, Kiel und Offenbach, nicht ohne darauf zu verweisen, dass das Zuzugspotenzial aus dem ländlichen Raum, dem Hinterland der Schwarmstädte, nicht unerschöpflich ist.[3]

Im wirtschaftlichen Wettbewerb der Standorte geht es schon lange nicht mehr darum, ob es genügend Arbeitsangebote für die Wohnbevölkerung gibt. Wie viele Diskussionen hat die Autorin in kleineren Städten und ländlichen Regionen erlebt, wo jede demografische Statistik und die Darstellung ihrer städtebaulichen Folgen zunächst mit der Gegenfrage nach den Arbeitsplätzen beantwortet wurde: Wenn Sie etwas gegen die Schrumpfung tun wollen, dann schaffen Sie erst mal Arbeitsplätze! Heute kehren sich die Verhältnisse um: nicht mehr die Arbeitsplatzangebote sind der Engpass, sondern die lokale und regionale Arbeitskräftesituation. In der Folge werden Industrieunternehmen und Forschungseinrichtungen dorthin gehen, wo ausreichend viele und qualifizierte Arbeitskräfte im Einzugsbereich zu erwarten sind.

Was aber geschieht, wenn die demografische Schrumpfung mit einer weiteren räumlichen Konzentration der begehrten jungen Menschen und Arbeitskräfte ebenso wie der attraktiven Arbeitsplätze einhergehen wird? Was wird mit dem ländlichen Raum bei anhaltenden Entleerungsprozessen? Was ist, wenn kein Bürgermeister mehr vor Ort ist und kein Lehrer, weil die Schule geschlossen ist? Was, wenn der Pfarrer bestenfalls alle acht Wochen einmal vorbei kommt und der Gastwirt den Dorfkrug schon vor Jahren geschlossen hat? Oft genug waren ja genau das die Persönlichkeiten, die das öffentliche Leben und den gemeinschaftlichen Zusammenhalt getragen haben. Kümmerer eben. Und was wird, wenn ultrakonservative bis völkische Siedlungsbestrebungen den Alltag im Dorf übernehmen? So weit ist es nicht, meinen viele, die Ängste der Menschen sollte man nicht immer gleich als Ressentiment und Fremdenhass auslegen. Leider ist die Situation nicht ganz so harmlos wie man möchte. Die Amadeu Antonio Stiftung berichtet über aktive völkische Siedlungsbestrebungen in ländlichen Räumen – von der Mitwirkung in Vereinen, über Kindergärten, Kirchgemeinden bis hin zu regionalen Ökoprojekten. „Sie siedeln in ganz Deutschland“, ist ihre Recherche überschrieben[4]. Deswegen geht es nicht nur um neutrale demografische Veränderungs- und Verschiebungsprozesse, sondern es geht um die grundsätzlichen demokratischen Grundlagen unserer Gesellschaft und den Zusammenhalt in unserem Land.