31.5.2017: Zeitgenössische Kunst in romanischer Kapelle: Carsten Nicolais Installation ‚organ’ eröffnet am 24. Juni 2017

Die Internationale Bauausstellung (IBA) Thüringen und die Evangelische Kirche in Mitteldeutschland fragen: Wie nehmen wir leerstehende Kirchengebäude trotz einer zurückgehenden Zahl von Gemeindemitgliedern und Kirchgängern in die Zukunft mit? Eine exemplarische künstlerische Intervention setzt der international renommierte Künstler Carsten Nicolai in den kommenden Monaten um: seine skulpturale Arbeit ‚organ’ hat er eigens für die aus dem zwölften Jahrhundert weitgehend ursprünglich erhaltene St.-Anna-Kapelle in Krobitz/Weira im Thüringer Saale-Orla-Kreis entworfen.

Im weitesten Sinne ist diese Arbeit ein Musikinstrument, das von frühen Entwürfen sogenannter Flammenorgeln aus dem späten 18. Jahrhundert inspiriert ist. Im Gegensatz zur klassischen (Kirchen-) Orgel sind die Tonerzeuger hier Flammen, welche Töne erzeugen, indem sie in Glaszylindern mitschwingen.

Carsten Nicolai erläutert: „Wichtig ist mir, dass sich ganz ursprüngliche Elemente wie Feuer, Erde, Luft und Klang sowohl visuell als auch akustisch miteinander verbinden und eine Symbiose mit dem Ort bilden. Bei der Auswahl der Materialien habe ich, um auf die einzigartige Aura dieses Ortes einzugehen, nur bereits vorhandene Elemente und ‚Technologien’ verwendet.“

Der Titel organ nimmt zum einen Bezug auf das englische Wort ‚organ’ (Orgel), zum anderen auf das symbiotische Miteinander von Organen, die einen lebendigen Körper bilden. Essentiell hierbei ist, dass an diesem Ort ein organisches Zusammenspiel entsteht: So sind beispielsweise die Flammen der Feuerorgel nicht nur Wärme- und Lichtspender, sondern auch Tonerzeuger.

‚organ’ besteht aus 25 modellierten akustischen Resonanzröhren, deren geometrische Formen sich am Modell der Kirchen- beziehungsweise Pfeifenorgel orientieren. Als Orgelpfeifen werden Glaszylinder verschiedener Größe verwendet, die anstelle des im Orgelbau üblichen Luftstroms mithilfe kleiner Gasflammen zum Schwingen gebracht werden. Die besondere Faszination liegt darin, dass die Klangerzeugung nicht – wie bei der konventionellen Orgel – unsichtbar bleibt, sondern sichtbar wird.

Der Künstler Carsten Nicolai hat sowohl das Instrument entworfen und gebaut als auch eine Komposition speziell für diesen Ort angefertigt. Notationsscheiben, die durch Gewichte angetrieben werden, spielen die Komposition in bestimmten Intervallen wiederholend ab. Die Kompositionsscheiben sind so gestaltet, dass auch andere Komponisten für dieses Instrument Stücke schreiben könnten. In zukünftigen Aufführungen ist es vorgesehen, Komponisten einzuladen, die für dieses sehr spezielle Instrument komponieren.

Neben dem Instrument hat die Kapelle zudem einfache architektonische Interventionen erfahren. Im Hauptraum wurde ein neuer Stampflehmboden mit einer umlaufenden Holzbank installiert, der die Kapelle in ihrer Patina erhält. Die Arbeit soll sowohl im Innen- als auch Außenraum eine Strahlkraft erzeugen, mit dem Ziel, eine eigene Identität und möglicherweise ein neues Wahrzeichen für die Region zu schaffen. Utopia triumphans: Zum Klang wird hier das Licht, zum Raum wird hier die Zeit.

organ ist im Rahmen von ‚STADTLAND:Kirche. Querdenker für Thüringen 2017’ entstanden, einem Kooperationsprojekt der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM) und der Internationalen Bauausstellung (IBA) Thüringen, gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes sowie das EU-Programm LEADER und erfolgt in enger Zusammenarbeit mit der Kirchengemeinde und der Gemeinde Weira. Die baulichen Maßnahmen wurden durch das Büro nitschke + kollegen architekten begleitet und von den Firmen Tischlerei Herden sowie handwerk & design Hoppert umgesetzt. Das Instrument nach den Plänen von Carsten Nicolai realisierten die Firma yamaguchi – ufficio d’arte und WERKSTATT 4. Für die kuratorische Projektleitung des offenen Ideenaufrufes und die Gestaltung der Erfurter Ausstellung ‚500 Kirchen 500 Ideen’ im Rahmen des Gesamtvorhabens ist das Büro für Szenografie chezweitz verantwortlich.

organ
Kunstprojekt von Carsten Nicolai
St.-Anna-Kapelle
07806 Krobitz / Gemeinde Weira

24. Juni bis 10. September 2017
jeweils Samstag/Sonntag 14:00 bis 20:00 Uhr
Öffentliche Vernissage: Samstag, 24. Juni, 17:00 Uhr
Pressegespräch mit Carsten Nicolai: Samstag, 24. Juni 2017, 15:00 Uhr
Eintritt frei

16. Juli, 11:00 Uhr
Entdeckertour (Treffpunkt 11.00 Uhr Kaufmannskirche Erfurt) mit den Stationen Erfurter Kaufmannskirche, Dreieinigkeitskirche in Zeulenroda und St.-Anna-Kapelle in Krobitz.
Teilnahmegebühr: 40 Euro p.P.
Anmeldung erforderlich über http://www.querdenker2017.de/info

Weitere Informationen erhalten Sie auf www.iba-thueringen.de und www.querdenker2017.de.

Hintergrundinformation zu Flammenorgeln

In den Experimentierzirkeln und Laboratorien des ausgehenden 18. Jahrhunderts stieß man erstmals auf das Phänomen ‚singender Flammen’. Physiker, Astronomen und Erfinder mit Protagonisten wie u.a. Ernst Florens Friedrich Chladni förderten mit ihren Theorien und Versuchen die Entwicklung zum Entwurf und Bau eines neuartigen Musikinstrumentes, das unter Verwendung von brennendem Leuchtgas und Glasröhren Töne und zugleich Lichteffekte generiert: die Flammenorgel.

Eine historisch-exemplarische Figur im Diskurs über das Phänomen ‚singender Flammen’ ist der französische Physiker Frédéric Kastner. Kastner begann 1875 mit der Konstruktion einer Feuer- bzw. Flammenorgel (‚Pyrophon’), um die Resultate der bisherigen Studien und Experimente  zu bestätigen. Bei diesem Musikapparat werden Flammen mithilfe elektrischer Leitungen direkt durch den Druck einer Klaviatur gezündet und reguliert. Idee und Konzept seines Prototypen hat Kastner in seiner Abhandlung ‚Les flammes chantantent’ verifiziert.

Hintergrund zum Ideenaufruf ‚STADTLAND:Kirche. Querdenker für Thüringen 2017’

Im März 2016 haben die Evangelische Kirche in Mitteldeutschland (EKM) und die Internationale Bauausstellung (IBA) Thüringen den offenen Ideenaufruf ‚STADTLAND:Kirche. Querdenker für Thüringen 2017’ gestartet. Fast 2.000 evangelische Kirchgebäude gibt es in Thüringen, ihre Nutzer werden aber immer weniger. Ziel des Aufrufs war es vor dem Hintergrund des Reformationsjubiläums, 500 Ideen für neue Nutzungen und damit für die Zukunft Thüringer Kirchen zu sammeln.

Die Ergebnisse des Ideenaufrufs sind bis 19. November 2017 in einer raumgreifenden Medieninstallation in der Erfurter Kaufmannskirche zu sehen. Ein Ideengenerator für weitere Anregungen ist Teil der Ausstellung. Begleitend zur Ausstellung gibt es ein umfangreiches Rahmenprogramm mit einem Kolloquium, drei Salongesprächen, fünf Touren und einer internationalen Werkstatt.

Aus der Fülle von Ideen sollen bis zu fünf IBA Kandidaten nominiert und bis zum IBA Finale 2023 als konkrete Umnutzung von Kirchen umgesetzt sein. 

Das Projekt der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland wird von der Kulturstiftung des Bundes gefördert und begleitet durch die kuratorische Projektleitung des Büros für Szenografie chezweitz.