Mehr als eine Gebietsreform – ein persönlicher Kommentar
Der demografische Wandel war und bleibt eine der großen Herausforderungen für Thüringen. Einwohnerrückgang, Alterung und Wanderungen haben erhebliche Konsequenzen im Raum, auf die öffentlichen Finanzsysteme, die Wirtschafts- und Infrastrukturen, aber auch im weitesten Sinne auf die Fähigkeit einer alternden Gesellschaft, sich dynamisch weiterzuentwickeln. Der demografische Wandel in Thüringen ist ein zentraler Antrieb, in diesem Land eine Internationale Bauausstellung (IBA) durchzuführen. Während die IBA Thüringen STADTLAND zu ihrem Thema macht, legt die Landesregierung Vorschläge für eine Gebietsreform vor. Beiden Ansätzen liegen ein Reformbedarf und die Idee zu Grunde, sich dem Zwang zu Veränderungen zu stellen und daraus eine Chance zu machen. In ihrer politischen Grundierung berühren sich beide Ansätze: Hier wie da geht es um die demokratischen Grundlagen unseres Zusammenlebens. Während sich die Regierungskoalition die Frage vorlegt, wie man auf lange Sicht gut in diesem Land regieren und verwalten kann, und folglich die Fragen von effizienten Verwaltungsstrukturen im Vordergrund stehen, fordert das experimentelle Format einer IBA zum Querdenken heraus – in Bezug auf die räumlichen Auswirkungen des demografischen Wandels und die staatlichen Reaktionen veränderter Governancesysteme mit mehr Subsidiarität, Solidarität und Selbstverantwortung. Meine These ist: Kosten- und Effizienzargumente können keine ausreichende Überzeugungskraft entfalten, wenn wir die Reform nicht mit einer starken Idee verbinden, die auch Vorteile verspricht. Lassen Sie mich einmal phantasieren und spekulativ in eine weit entfernte Zukunft schauen.
In Regionen denken!
Stellen Sie sich einmal vor, Europa überwindet seine gegenwärtige Krise und wird zu einem ökonomisch starken, aber ebenso zu einem politisch und kulturell überzeugenden Bezugsrahmen, der in vielerlei Hinsicht an die Stelle nationalstaatlicher Identitäten tritt. Stellen Sie sich weiterhin vor (und ich weiß, das ist hochgefährlich, so etwas mehr als nur zu denken, gar zu schreiben oder zu drucken, deswegen stellen Sie sich das einfach für das Jahr 2050 vor), es gibt es nicht mehr 16, sondern fünf Bundesländer in Deutschland. Thüringen ist mit seinen Nachbarn oder doch Teilen davon verschmolzen zu einem zentral gelegenen Bundesland ‚Mitte Deutschland’ (oder so ähnlich könnte es heißen und ich werde nicht verraten, wo ich mir die Hauptstadt vorstelle). Und stellen Sie sich ebenfalls vor, dass es unter der Ebene der vergrößerten Bundesländer starke Regionen gibt, die für ihre Bewohnerinnen und Bewohner einen wichtigen gesellschaftlichen Bezugsraum ausmachen. Ein Europa der Regionen.
Schon heute orientiert man sich südlich vom Rennsteig nach Oberfranken. Sonneberg ist Teil der Metropolregion Nürnberg und die Initiative Rodachtal lebt eine grenzüberschreitende Nachbarschaft. Das Eichsfeld und das Vogtland würden nicht mehr durch Ländergrenzen zerschnitten, Ostthüringen würde sich auf das Gravitationszentrum Leipzig beziehen usw. usf. Die regionalen Identitäten gründen auf geografischen Bedingungen, historischen Linien und infrastrukturellen Zusammenhängen. Vor allem aber gründen sie auf einer freiwilligen Verfasstheit; der Wunsch, miteinander zu kooperieren wurzelt in Erfahrungen von gegenseitigem Vorteil. Der lebensweltliche und identitätsstiftende Raum des Alltags ist die Region.
Regiopolen stärken!
Die Regionen würden in der Mitte von Deutschland besonders stark sein, weil sie nicht von Metropolen dominiert werden. ‚Mitte Deutschland’ ist und bleibt ein ländlich geprägter Raum. Erfurt, Jena und Gera sind für unsere Thüringer Verhältnisse die großen und starken Zentren des Landes –etwas größer als Kassel und etwas kleiner als Chemnitz; die nächsten Halbmillionenstädte (über den Daumen gepeilt: Leipzig, Nürnberg, Hannover) sind relativ weit entfernt. Da müssen die Thüringer Regiopolen Zugpferde der Entwicklung in der Fläche werden und sie brauchen entsprechende Unterstützung, da hilft kein Gerechtigkeitsargument von Stadt gegen Land oder Impulsregion gegen den Rest von Thüringen.
Als Landstadt handeln!
In der Siedlungsstruktur wirken starke historische Kontinuitäten. Veränderte Grenzziehungen oder neue Bindestrich-Ortsnamen werden kaum etwas an den gefühlten Zuordnungen der Menschen verändern. Man ist Leinefelder oder Worbiser, kommt aus Weimar oder Tiefurt. Aber die Entwicklungsunterschiede werden sich vergrößern, sofern der wahrscheinliche Fall eintritt, dass Einwohnerwachstum und -wanderungen im Wesentlichen weiter so ablaufen wie bisher. In der Fläche wird – wenn unsere Annahmen zutreffen – also ein weiterer Rückgang der Einwohnerzahl stattfinden, auch wenn uns das nicht gefällt. Stellen wir uns also weiterhin eine Art zeitgenössischer Landstädte vor, die mit ihrer Umgebung vielfältig verbunden sind. Sie übernehmen Verantwortung und werden sich im Verein mit den anderen kleineren und größeren Nachbarn um ihr Territorium kümmern. Im Gegenzug ist auch die Region mitverantwortlich für das Museum im Schloss, das Orchester im Stadttheater und die Wohnungen für Bedürftige. Zentren werden zu Zonen, die vielfältig ins Umland ausgreifen; das Umland greift auf die Angebote des Zentrums zurück. Ein solches regionalisiertes Stadtverständnis muss sich in den administrativen Strukturen abbilden.
Neue Governance durch radikale Subsidiarität aufbauen!
In den Verwaltungsstrukturen werden finanzielle Mittel, Knowhow und Personal konzentriert und die bislang verteilten schwachen Kräfte gebündelt. Sie geben vieles ‚nach unten’ ab. Zwischen den Maschen des Landstadt-Netzwerkes stelle ich mir ein Selbstveranwortungsland vor. Ich denke an ein kommunitaristisches System, das den sozialen Gemeinschaften der Orte und Vororte, der Stadtteile und Nachbarschaften viel zutraut und überlässt. Dort, wo nach den Prinzipien der Subsidiarität Aufgaben abgegeben werden, müssen sich die Regeln des Handelns erleichtern. Selbsthilfe und Bürokratie vertragen sich nicht gut. Der lebenspraktische Alltag schreibt hier die Tagesordnung und ein Globalbudget oder Bürgerhaushalt wird in die Hände der Verantwortlichen gelegt. Aus diesem kann man zahlen, ohne nach Programmen zu schielen und Förderquoten zu berücksichtigen. Die übergeordneten Verwaltungsebenen halten Spezialwissen für die komplizierten Verwaltungsabläufe bereit, sie verstehen sich als Helfer und Ermöglicher, wenn nicht gar als Dienstleister.
Ein Versuch in Sachen Demokratie wagen!
Der sattsam bekannten Erschöpfung von Engagierten und Ehrenamtlichen wird entgegengewirkt, denn in meiner Phantasie gibt es nicht nur ein Recht auf Mitwirkung auf der lokalen Ebene, sondern auch eine Bürgerpflicht mitzuentscheiden. Die heute oft sehr anstrengenden Bürgerbeteiligungsprozesse haben geregelte Abläufe. Entscheidungsprozesse laufen digital ab, nahezu nebenbei beim Geldabheben oder Wochenendeinkauf. Per Los werden berufene Bürger in die lokalen Parlamente hinzugezogen; in den Behörden gibt es gut ausgebildete Verantwortliche für Beteiligungsprozesse – sie sind sozusagen Übersetzer von unscharf artikulierten Wünschen oder Protesten der Bürgerinnen und Bürger in die Sprache von Politik und Verwaltung, der Finanzen und Gesetze. Und umgekehrt vermitteln sie politische Entscheidungen verständlich in die Öffentlichkeit. Das ist nichts, das man so nebenbei und nach der Arbeit erledigen könnte. Das setzt ‚die Politik’ nicht außer Kraft, denn viele Fragen übersteigen den lokalen Horizont und das eigene, abgesteckte Interesse. Vor allem unpopuläre Entscheidungen und konkurrierende Vorhaben brauchen Verständigung, Vermittlung und Verhandlung. Deswegen werden große regionale Dialoge angestiftet – hier werden die regionalen Benchmarks öffentlich ausgehandelt und verbindlich beschlossen. Die Politik bleibt in der Verantwortung.
Anstrengung lohnt sich!
Das klingt nach Wettbewerb zwischen den Regionen? Fürwahr. Die Entwicklung verläuft ungleicher, aber nicht ungerecht. Das klingt nach Anstrengung? Genau. Die Landstädte müssen sich anstrengen, um ein Knoten im Netz zu werden oder zu bleiben. Nur aus ihrer historischen Bedeutung erhalten sie diesen Rang nicht und sie behalten ihn nicht auf Ewigkeit. Vielmehr werden Erreichbarkeiten, Mobilität, Verkehrsverbindungen und eine geteilte Identität zu zentralen Standortfaktoren. Das Städtenetzwerk ist dynamisch, die Entwicklungen verlaufen vielfältig und manchmal überraschend. „Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine“, beschreibt Bert Brecht das große Gleichnis der Vergänglichkeit. Kreativität, Nachhaltigkeit und Solidarität werden belohnt. Der Erfolg stärkt das Wir-Gefühl. Ein gutes Lebensgefühl.
Ein Nachsatz:
Spinnen kann jeder, wen interessiert schon das Jahr 2050, wenn es um 2019 geht! Und Politik ist die Kunst des Möglichen, das sagte schon Otto von Bismarck. Zwischen Vision und Machbarkeit liegt das Experiment. Die IBA Thüringen bietet diese Gelegenheit. Sie hat sich zum Ziel gesetzt, das Neue zu erfinden und zu erproben. In diesem Fall könnte es ein Demokratieprojekt in Eigenverantwortung sein. Allein die vergrößerten Gebietskulissen lösen keine Probleme, vielmehr müssen sie als Handlungsrahmen ausgefüllt werden; das Selbstverantwortungsland braucht Innovationen und Regeln; die Akteure brauchen die Gelegenheit für den Probelauf und das Nachbessern gewonnener Erkenntnisse. Das ist die Arbeitsweise der IBA. Vielleicht helfen einige der dargestellten Ideen und das IBA Experiment, der aktuellen Kraftanstrengung Gebietsreform etwas abzugewinnen, das einen Mehrwert verspricht. Keine Verwaltungseffizienzoptimierungsmaschine, besser Gebietsreform plus x!
Marta Doehler-Behzadi, Geschäftsführerin der IBA Thüringen